Treffender ist es kaum auszudrücken ......
Wie ein ganz normaler Tag
Es ist schwer für mich zu begreifen, dass die Erde sich noch dreht, so wie gestern, so wie morgen, dass alles einfach weitergeht.
Es ist schwer für mich zu begreifen, dass die Welt noch funktioniert. Man denkt, es müsste anders sein, wenn man jemanden verliert.
Dass heute für die meisten Menschen nur ein ganz normaler Tag ist – wie kommen sie da drauf? Wie kann es sein, dass Menschen ganz normal zur Arbeit gehn, dass sie Freunde treffen und in Einkaufsschlangen stehn?
Jemand sagt: „Ich liebe dich“, eine Reisegruppe läuft durch Prag – alles so, als wäre heute nur ein ganz normaler Tag.
Jemand nimmt den letzten Bus, jemand bringt ein Kind zur Welt, jemand wählt zum ersten Mal, jemand bekommt Wechselgeld.
Jemand streicht ein Haus, jemand errechnet den Ertrag – alles so, als wäre heute nur ein ganz normaler Tag.
Jemand weint vor Freude, ein anderer vor Trauer, jemand lädt zum Essen ein, ein anderer baut Mauern.
Jemand zieht aus, jemand zieht ein, jemand gießt die Blumen, jemand vergisst Tränen, jemand kauft ein Haus, jemand gibt auf, jemand macht Pläne.
Jemand besteht eine Prüfung, jemand geht zum Supermarkt, jemand geht spazieren im Park – alles so, als wäre heute nur ein ganz normaler Tag.
Und ich, ich steh daneben, mit Tränen in den Augen, und frag mich, wie das geht, und was die Menschen sich erlauben:
dass sie so tun, als wäre heute alles doch so ganz normal. Du bist nicht mehr hier – und es scheint ihnen egal.
Und ich muss mich erinnern: Sie wissen es nicht. Die Menschen könn’n es nicht versteh’n. Denn weil sie dich nicht kannten, wissen sie auch nicht, was fehlt.
Weil: Man kann ja nur verlieren, was man einmal hatte – und ganz egal, wie sehr ich diesen Tag auch hasse,
wenn er der Preis ist, den ich zahle für die Zeit mit dir, dann würde ich dich jederzeit immer wieder gern verlieren.
AUTORIN: Clara Lösel Text aus dem Buch " wehe du gibst auf"
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